Philosophie

Das Senpai-Kohai Prinzip


In der Kendopraxis ist die zwischenmenschliche Beziehung ein sehr wichtiger Bestandteil. Es ist nicht möglich, Kendo alleine zu praktizieren; man benötigt stets einen Partner.

Wenn es gelingt, einen Schlag direkt auf den Kopf seines Gegenübers auszuüben, so ist dies nicht als eine gewalttätige und selbstgefällige Handlung zu verstehen. Es handelt sich dabei vielmehr um die äußere Umsetzung der eigenen Energie in eine Schlagtechnik.

Um einen Angriff richtig und konzentriert ausführen zu können, ist es – wie in einem realen Kampf – notwendig, sein Gegenüber als einen Feind zu betrachten. Dieses Gefühl sollte jedoch nach beendetem Ausführen des Schlages nicht mehr dominieren.

Der Partner wird wieder zu einem Freund; er ist ein unentbehrlicher Teil, der es uns erlaubt, uns weiter zu entwickeln. Daher müssen wir ihm Beachtung schenken und ihm gegenüber stets Respekt bewahren.

Wenn man nun bei vertauschten Rollen selbst den Schlag auf den Kopf erhält, sollte man seinem Gegenüber dankbar sein (auch wenn es weh tut!). Denn somit wurde uns aufgezeigt, wo und wie wir verwundbar sind. Auf diese Art erkennen wir unsere Schwäche, und können versuchen, den gleichen Fehler nicht zu wiederholen.

Wenn es einem gelingt, diese Erkenntnis hinsichtlich einer Niederlage zu verinnerlichen, kann man beachtliche Fortschritte erzielen.

Diejenigen hingegen, denen es allein um das Erzielen oder Erhalten eines Treffers durch den Gegner geht, werden immer auf einem sehr tiefen Niveau bleiben, sowohl auf der fachlichen als auch auf der geistigen Ebene. Das ist das erste, was man hinsichtlich seines Gegners verstehen muss, wenn er bei uns einen Treffer erzielt.

Vor allem lernt man beim Kendo zu Beginn viel in Sachen Dankbarkeit von den Lehrern und den Älteren. Ohne sie würden wir niemals Fortschritte erzielen.

Diese Älteren heißen auf japanisch senpai, und die neueren Praktizierenden kohai. In Japan messen wir dem Konzept der senpaikohai Beziehung eine große Bedeutung bei. Nicht nur im Kendo, sondern auch im alltäglichen Leben.

Dies ist insbesondere eine Beziehung des Respekt gegenüber den älteren Menschen oder den mehr erfahrenen, die ein größeres Wissen haben. In Hinblick auf den Konfuzianismus, der noch immer einen großen Stellenwert in der fernöstlichen Kultur einnimmt, ist dies sicherlich eine Art der Weisheit, um das Leben zwischen den Individuen harmonischer zu gestalten. Alle Kendo-Praktizierenden unterliegen diesem Konzept, zumindest innerhalb Japans. Deshalb bewahren mit ebensoviel Bescheidenheit die hervorragenden kenshin als auch die großen japanischen Wettkämpfer ihren Respekt gegenüber den Meistern und den senpai, die sie geleitet haben.

Die senpai erfahren immer die Wertschätzung durch die kohai.

In der Praxis, im Dojo zum Beispiel, überlässt der kohai dem senpai den übergeordneten Platz. Wenn der kohai den senpai um einen Kampf bittet, wendet er sich ihm zu, zur Vorderseite gewandt. (shomen)

Wenn man zur Begrüßung eine Reihe bildet, wird in den meisten Fällen die hierarchische Ordnung des senpaikohai Prinzips respektiert. Ich sage, in den meisten Fällen, denn leider ist das nicht immer die Regel.

Auch wenn man der Graduierung Rechnung tragen muss, so ist es durchaus möglich, dass ein höher graduierter kohai über einem niedriger graduiertem senpai plaziert wird, zum Beispiel bei einem offiziellen Ereignis.

Aber sobald sie in ihr eigenes Dojo zurückkehren, gilt wieder die vorgegebene Hierarchie der senpaikohai.

Die Graduierung betrifft ohne Zweifel die fachliche Reife, aber ich denke, dass sich die zwischenmenschliche Beziehung unter den Kendo-Praktizierenden durch das Verständnis des senpaikohai entwickelt.

Daher muss man auch verstehen, dass Alter und Dienstalter nicht ausreichend sind, um ein guter senpai zu sein. Der senpai muss immer ein Vorbild für den kohai sein, durch würdiges Verhalten. Auf diese Art wird der gegenseitige Respekt zwischen senpai und kohai lange bestehen, auch wenn der kohai den senpai technisch gesehen bereits übertrifft.

Die fachliche Kompetenz ändert sich entsprechend den Fähigkeiten jedes einzelnen, insbesondere in einer Art des Kampfes wie der unseren. Natürlich ist es ebenso normal, dass verschiedene Lehrer unterschiedliches Können vorweisen.

Wenn ein Praktizierender seinen ersten Lehrer übertrifft, und er sich gemäß seinem Fortschritt entwickelt, so ist das wünschenswert als auch notwendig. Dennoch darf man niemals vergessen, dass jeder seiner Lehrer in jedem Abschnitt seines Kendo sein sensei und sein senpai war. Zwingenderweise gibt es einen Unterschied in der fachlichen Kompetenz zwischen seinem ersten und seinem gegenwärtigen Lehrer, aber dennoch besteht kein Unterschied in der menschlichen Wertschätzung.

Gelingt es, sich dieses Verständnis anzueignen und zu praktizieren, und das Gefühl der Dankbarkeit gegenüber seinen Lehrern und seinen senpai zu bewahren, dann, so denke ich, kann man ebenfalls ein vorbildhafter kenshin sein, und zu der Harmonie in der Welt des Kendo beitragen.

Quelle:
Autor: YOSHIMURA Kenichi
Text: Erschienen März 1996 im „l’écho des dojo
Übersetzt aus dem Französischen